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Alkoholiker! Mein Weg aus der Sucht..

  • Autorenbild: Benjamin Hof
    Benjamin Hof
  • 1. Jan. 2024
  • 35 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Okt. 2024

Die Sonne blendet mich, als ich auf die Autobahn auffahre und es ist ziemlich viel los auf den Straßen. Aber ich habe keine Eile an jenem Freitagnachmittag im Juni 2023. Es ist ein sonniger und warmer Sommertag. Die Arbeitswoche liegt hinter mir, aber heute geht es nicht nach Hause, sondern mit dem Auto gen Westen. Emotional betrachtet käme mir ein Stau jetzt vermutlich ganz gelegen, schließlich würde sich meine Ankunft damit zeitlich etwas nach hinten verschieben.


Seit einigen Monaten steht dieser Termin bereits in meinem Kalender. Aber dies wird kein gewöhnlicher Besuch sein, keine Erlebnisreise voller Vorfreude auf das, was mich dort erwarten wird. Nein, diese Fahrt ist eine Reise in meine Vergangenheit und zwar in eine ziemlich dunkle Zeit. Mit jeder Woche, die ich mich diesem Termin nähere, wird die innere Anspannung größer.


Ich befinde mich auf dem Weg nach Bad Essen, einer kleinen Stadt östlich von Osnabrück gelegen. Jene Stadt ist über die Region hinaus bekannt für seine Rehabilitationskliniken. In einer dieser Kliniken, welche sich vornehmlich auf Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit spezialisiert hat, findet am nächsten Tag eine Veranstaltung statt, das sogenannte Ehemaligentreffen. Man könnte es vielleicht wie eine Art Tag der offenen Tür beschreiben, gerichtet an all die Menschen, die jene Klinik in der Vergangenheit einmal als Patientin oder Patient besucht haben. Und zu dieser Gruppe ehemaliger Patienten gehöre auch ich.


Im Sommer 2018 habe ich diese Klinik für dreieinhalb Monate besucht. Das ist nun bereits fünf Jahre her, aber die damit verbundenen Emotionen vergehen nicht mit der Zeit. Vielleicht kennst du das Gefühl, wenn du einen lieb gewonnen Menschen gehen lassen musstest und bei seiner Beerdigung am Grab stehst. Es spielt keine Rolle, wie viel Zeit vergeht, denn der nächste Besuch dieses Ortes, fühlt sich an wie der Tag nach der Beerdigung. Ganz egal, ob dies nun einen Tag, einen Monat oder wie in meinem Fall ein Jahr später der Fall ist, da meine Großeltern bedauerlicherweise rund 600km entfernt gelebt haben.


Spätestens jetzt dürfte jedem klar sein, dass dieser Beitrag der für mich emotional wohl schwierigste Beitrag sein wird, den ich jemals verfasst habe. Es ist eine sehr persönliche Reise in meine Vergangenheit und an einen Ort, mit dem ich zugleich Unsicherheit wie Hoffnung verbinde. Aber in jedem Fall ist es eine Reise, die mich sehr viel Kraft kosten wird. Aber sie ist notwendig, um dieses Kapitel meines Lebens abschließen zu können.


Nachdem ich im Hotel eingecheckt habe, spaziere ich durch die Straßen des kleinen Ortes. Mich umgibt ein seltsames Gefühl. Es ist eine Mischung von Vertrautheit und unendlich vielen Emotionen, die schwierig in Worte zu fassen sind. Und während ich an den Geschäften vorbeilaufe, sehe ich ein vertrautes Gesicht. Ist sie das wirklich? Ich nähere mich ihr und stelle fest, dass ich mich nicht getäuscht habe. Es handelt sich um eine Vertraute vergangener Tage, die zum gleichen Zeitpunkt wie ich in dieser Klinik war und mit der ich mich angefreundet hatte. Wir unterhalten uns kurz und ich freue mich, dass sie ebenfalls am Folgetag in der Klinik sein wird.


Aus Gründen der Diskretion werde ich ihren Namen nicht nennen, aber für mich ist diese Begegnung etwas ganz Besonderes. Denn, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, in diesem Jahr beim Ehemaligentreffen einem Menschen zu begegnen, mit dem ich vor einigen Jahren so manches in dieser Klinik erlebt habe und der mir sehr vertraut ist. Dazu zählen sicher die vielen Ausflüge und Unternehmungen, die tiefgründigen Gespräche, das sich gegenseitige Stützen und Unterstützen, aber ebenso das Teilen von Leid und Verarbeiten ziemlich übler Erlebnisse, welche in solch einer Klinik genauso zum Alltag gehört, wie die täglich strukturierten Abläufe.


Am nächsten Tag ist es also soweit. Ich besuche die Klinik, welche fünf Jahre zuvor für einige Monate mein Zuhause war. Seitdem war ich nicht mehr hier. Meine Beine fühlen sich schwer an und die Schritte auf dem Klinikgelände machen mir zu schaffen. Ich entdecke meine Vertraute und ich bin wirklich froh, sie an diesem Tag an meiner Seite zu wissen.


Warum musste es denn eigentlich überhaupt erst soweit kommen? Ein Rückblick. Es ist Silvester 2017 und der Jahreswechsel steht vor der Tür. Ich bin zu Besuch bei einer Freundin und wir machen uns fertig für die anstehende Silvesterparty. Das geht traditionell bereits mit dem Konsum von recht viel Alkohol einher. Für mich ist das längst Routine geworden, denn der Alkohol ist bereits seit Jahren ein fester Bestandteil meines Lebens. Daher kenne ich auch meine Grenzen und weiß den Konsum weitestgehend steuern zu können, wenngleich sich die Menge an Alkohol, die ich mittlerweile täglich zu mir nehme, ganz sicher nicht mehr in einem gesunden Rahmen bewegt. Sofern man in diesem Zusammenhang überhaupt von gesund sprechen kann.


An diesem Silvesterabend ist es allerdings meine Freundin, die offensichtlich zu schnell zu viel Alkohol zu sich nimmt und so kommt es, wie es kommen muss. Wir geraten im Streit verbal aneinander und schnell wird klar, dass sich das heute Abend nicht mehr ausräumen lässt, denn dafür hat sie schlichtweg zu viel Alkohol konsumiert. Oft genug ist es umgekehrt, denn gewöhnlich bin ich derjenige, der zu viel getrunken hat und dies dann oft genug im Streit endet. Aber heute ist es umgekehrt.


Auf irgendeine Weise ist mir meine Freundin in genau diesem Moment ein Spiegel. Genau so muss es sich wohl anfühlen, wenn ich zu viel getrunken habe und sich jemand in meiner Gegenwart befindet. Ein vernünftiges Gespräch oder gar das seriöse Aufarbeiten eines Streits wird dann sicher auch mit mir nicht mehr möglich sein. Blöderweise kommt hinzu, dass wir beide sehr stur sein können und so weicht die Vorfreude auf die Silvesterparty nun bösen Worten und gegenseitigen Vorwürfen. Irgendwann beschließe ich zu gehen, bevor die Situation gänzlich eskaliert. Und so kommt es, dass ich um Mitternacht, zum Jahreswechsel, alleine zuhause auf meinem Balkon sitze. Frohes neues Jahr 2018!


Es wäre jetzt nicht fair meiner Freundin gegenüber, wenn ich die Schuld für diesen zerstörten Abend bei ihr suchen würde und das mache ich auch nicht. Mein Leben ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein täglicher Ritt auf der Rasierklinge und es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis etwas passieren wird, was sich im Nachgang dann ganz sicher nicht mehr mit einem Gespräch oder einem Telefonat klären lässt.


Der Alkohol hat mich mittlerweile so fest im Griff, dass sich fast mein ganzes Leben darum dreht, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Da sind viele Verletzungen im Spiel, bis hin zu einer gescheiterten Ehe, die sich irgendwie ins Gesamtbild einreiht. In den vergangenen Monaten hat sich die Lage immer weiter zugespitzt. Mittlerweile trinke ich, um gegen meine negativen Emotionen anzukämpfen. Gegen die Einsamkeit, die Isolation in die ich mich selbst gebracht habe und letztlich gegen die immer lauter werdenden Schreie meiner Seele, die diesen Zustand nicht mehr ertragen kann. Ich bin am Ende meiner Kräfte, körperlich wie psychisch. Und ich bin Realist genug um zu wissen, dass ich aus dieser Lage ganz sicher nicht mehr ohne professionelle Hilfe herauskommen werde.


In jener Nacht sitze ich auf meinem Balkon und die vergangenen Jahre meines Lebens laufen vor meinem inneren Auge ab. Mir kommen die Tränen. Wie konnte ich die Kontrolle über mein Leben so verlieren? Was ich vier Jahre zuvor vielleicht selbst noch nicht unterschrieben hätte, kann ich heute ohne Weiteres unterschreiben. Ja, ich bin Alkoholiker, Punkt!


Mitunter darf man darüber diskutieren, wie viel Alkohol eine verträgliche Menge darstellt und ab welchem Punkt der Konsum kritisch zu bewerten ist. In meinem Fall ist das einfach zu beantworten. Ich versuche zu rekonstruieren, an wie vielen Tagen ich in den letzten Jahren eigentlich keinen Alkohol zu mir genommen habe. Für diese Rechnung brauche ich keine zwei Hände, denn das sind keine fünf Tage in den vergangenen vier Jahren gewesen. Meist ist das mit der Alkoholabhängigkeit ein schleichender Prozess, denn unser Körper ist sehr gut darin, sich an neue Muster zu gewöhnen. Und so steigt die Menge an Alkohol, die der Körper vertragen kann und letztlich dann auch benötigt, über die Monate und Jahre stetig an.


Um das einmal in Zahlen zu verdeutlichen. Seit einigen Jahren bin ich beim Wein hängen geblieben. Spanischem Rotwein, trocken, um es genau zu nehmen. Natürlich wird das zur Abwechslung gerne mit Hochprozentigem ergänzt. Dem klassischen Bier kann ich dagegen nichts mehr abgewinnen. Denn das Volumen, was ich für meinen benötigten Zustand täglich zu mir nehmen müsste, ist einfach zu viel. Unter der Woche beläuft sich mein Konsum mittlerweile auf 2-3 Flaschen Rotwein pro Tag, oder besser gesagt pro Abend. Denn bedingt durch meinen Job kann ich erst abends trinken. Über die Menge am Wochenende reden wir an dieser Stelle besser nicht, denn da beginnt mein Konsum bereits am frühen Morgen nach dem Aufstehen. Es ist schließlich Wochenende, ich muss nicht zur Arbeit und ich darf mich mit Alkohol dafür belohnen.


Wie ist man denn eigentlich in der Lage, trotz eines solchen Alkoholkonsums noch seriös einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen zu können?


Nun, das mag jetzt vielleicht grotesk klingen, wenn ich sage, dass dies nur durch eiserne Disziplin möglich ist. Denn schließlich spreche ich hier über den Missbrauch von Alkohol und als disziplinierter Mensch sollte es doch möglich sein, den Alkoholkonsum kontrollieren zu können. Aber dem ist nicht so. Es ist schwierig für mich, diese Ambivalenz der Disziplin erklären zu können. Das Leben hat mich gelehrt, dass es mitunter eiserner Disziplin bedarf, wenn du etwas erreichen möchtest. Da draußen wartet niemand auf dich und keiner hält dir ein Plätzchen frei. Wenn du etwas erreichen möchtest, ganz egal ob beruflich oder privat, dann bedarf es eiserner Disziplin. Was es auch ist, sei es deine Arbeit, dein Sport oder dein Hobby. Es gibt Zeiten, da fehlt dir der Antrieb und die Motivation. Und dann ist es immer der einfache Weg, alles aufzugeben. Gibst du auf, hast du sicher verloren, kämpfst du weiter, so erhältst du dir die Chance, dein Ziel erreichen zu können. Das ist keine Magie, keine Quantenphysik, das ist eine ganz einfache Lehre des Lebens. Daher bedarf es für mich schon einer wirklich überzeugenden Argumentation, um etwas woran ich glaube, aufzugeben. Mein Verstand wurde darauf trainiert, in solchen Momenten das Herz, Gefühle und Emotionen auszustechen um sich durchzusetzen. In Zeiten von Diskussionen über Work-Life-Balance und 4-Tage-Wochen mag das für den einen oder anderen schwer nachvollziehbar sein, aber ich bin ein Kind der 80er Jahre.


Meinem beruflichen Werdegang habe ich vieles untergeordnet, denn das ist meine Lebensversicherung. Zweifelsfrei gibt es so manches in meinem Leben, worauf ich nicht stolz bin. Meine berufliche Entwicklung gehört jedoch zu den Dingen, worauf ich stolz bin. Das traurige ist, dass dies neben dem Alkohol mittlerweile die einzige Konstante in meinem Leben ist. Dieser Fokus auf den Job und meine Disziplin ist wohl der Grund dafür, warum ich überhaupt in der Lage bin, meinen stetigen Alkoholkonsum über all die Jahre so kaschieren zu können, dass es zumindest in meinem beruflichen Umfeld niemand bemerkt hat. Selbstverständlich ist bekannt, dass ich gut feiern kann und hier und dort mal über die Stränge schlage, was man mir am Folgetag sicher auch ansieht. Das ist aber in der heutigen Zeit gesellschaftlich akzeptiert und wird daher auch nicht weiter hinterfragt. Dennoch ändert es nichts an der Tatsache, dass ich meiner Tätigkeit mittlerweile als abhängiger Alkoholiker nachgehe.


Wenn ich nur in der Lage wäre, jene Disziplin zu nutzen, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen. Aber selbst die stärkste Disziplin ist endlich und alle Körner gehen bereits dafür bei drauf, dass in meinem Arbeitsumfeld niemand etwas von meiner Alkoholabhängigkeit bemerkt. Und dieser Umstand dauert nun bereits seit mehreren Jahren an.


Ohne diese Disziplin, hätte ich meine Arbeitsstelle längst verloren. Klar ist aber auch, dass die innere Anspannung und der Druck über die Jahre immer größer werden, denn der Körper verlangt nach Alkohol und es ist ihm herzlich egal, welcher Wochentag heute ist. Daher wird es psychisch auch immer schwieriger, dem eigenen Körper Tag für Tag zu vermitteln, dass er den benötigten Alkohol eben erst bekommt, wenn ich nach der Arbeit zuhause bin. Und mittlerweile habe ich wohl berechtigte Angst davor, dass ich diesem Druck nicht mehr lange standhalten kann, wenngleich ich das über all die Jahre bisher geschafft habe.


Ein weiterer Punkt, der mir offensichtlich ein Stück weit zum Verhängnis wurde, ist die Tatsache, dass ich einen sehr starken Charakter habe und es mir daher auch ziemlich egal ist, was Menschen über mich denken, die mich nicht kennen und die ich nicht kenne. Folglich habe ich auch überhaupt kein Schamgefühl, wenn ich dreimal die Woche im Supermarkt, an der gleichen Kasse und womöglich vor derselben Kassiererin stehe, um jeweils nur zwei Kartons Rotwein oder Wodka einzukaufen, natürlich ohne dass dieser im Angebot wäre. Und auch wenn ich unterwegs bin, so dürfte allen Beteiligten am Tisch oder an der Bar sehr schnell klar sein, dass ich es gewohnt bin, sehr viel Alkohol zu trinken. Das stellt auch keine Probleme dar, denn letztlich verbringt man seine freie Zeit mit jenen Menschen, die entweder ebenfalls nicht wenig Alkohol konsumieren oder dies tolerieren. Von Freunden, die es immer wieder versucht haben, mich mit meinem problematischen Alkoholkonsum zu konfrontieren, habe ich mich entweder distanziert oder ihnen unmissverständlich klar gemacht, dass wir uns nicht mehr sehen werden, wenn sie diesen Umstand nicht akzeptieren. Denn der Alkohol ist nun einmal Teil meines Lebens.


Und dabei mache ich auch keinen Halt vor der Familie. Letztlich können meine Eltern und Geschwister wählen, ob sie meinen Alkoholkonsum tolerieren, oder wir uns andernfalls nicht mehr sehen. Während ich diese Worte schreibe, merke ich selbst, in welch unfassbar schwierige Lage ich meine Lieben da über Jahre gebracht habe. Aber es hilft nichts, in diesem Beitrag geht es nicht darum irgendetwas zu beschönigen, sondern darum, die mitunter tragischen Konsequenzen aufzuzeigen, die es nach sich zieht, entweder selbst Alkoholiker zu sein oder einen Alkoholiker im unmittelbaren Umfeld zu haben.


Ohne Zweifel, über eine solche Disziplin und einen so starken Charakter zu verfügen, ist unglaublich wertvoll. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ich ohne diese Eigenschaften wohl längst auf die Schnauze geflogen wäre. Ob das rückblickend nun besser gewesen wäre, sei einmal dahingestellt.


Ich erinnere mich an ein Date mit einer attraktiven Frau, die ebenfalls recht trinkfest war. Wir hatten uns in einem Restaurant verabredet und drei Stunden später wies die Rechnung, neben dem Essen, vier Flaschen Rotwein aus. Das führte aber keineswegs zu irgendwelchen Ausfallerscheinungen, ganz im Gegenteil. Hätte sie zuhause nicht noch Wein gehabt, hätten wir auf dem Weg dahin noch etwas kaufen müssen. Dieses Date liegt mittlerweile aber auch bereits drei Jahre zurück. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich selbst etwas schockiert. Denn es zeigt mir gerade selbst auf, wie viele Jahre meines Lebens mich der Alkohol bereits begleitet.


Es ist auch faszinierend, zu sehen, wie gut die verbrauchsgesteuerte Distribution in den Supermärkten und Discountern funktioniert. Mit steigendem Alkoholkonsum muss man zwangsläufig Kompromisse eingehen. Natürlich würde ich gerne täglich auf den guten Rioja zurückgreifen. Aber bei Preisen oberhalb von 15€ die Flasche ist das bei meinem Konsum nicht finanzierbar. Also probiere ich diverse Weine aus, bis ich eine günstige Marke eines Discounters finde, die dennoch schmeckt. Zwar nicht so gut, wie jener Rioja, aber das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. In besagtem Discounter ist für diese Marke ein Fach für sechs Flaschen vorgesehen. Das zwingt mich zunächst dazu, auf dem Heimweg immer wieder die unterschiedlichen Filialen dieses Discounters in der Region anzufahren. Aufgrund der guten verbrauchsgesteuerten Distribution dauert es aber nur wenige Wochen, bis für jene Weinsorte in all diesen Filialen das Fach verbreitert wurde und nun Platz für 16 Flaschen geschafft wurde. Als Alkoholiker muss man pragmatisch denken, denn die Versorgung mit Nachschub wird mit steigender Abhängigkeit absolut elementar.


Ich möchte den Alkohol mit diesen Anekdoten weder verharmlosen, noch in irgendeiner Weise bagatellisieren. Es soll lediglich zeigen, dass Alkohol in unserer Gesellschaft so anerkannt und akzeptiert ist, dass du als Alkoholiker überhaupt keine Probleme mit einer entsprechenden Akzeptanz hast, solange du Manieren an den Tag legst und dich in der Außendarstellung weitestgehend unter Kontrolle hast.


Nun sitze ich hier also kurz nach Mitternacht am 01.01.2018 auf meinem Balkon und versuche meine Gedanken zu sortieren. In den vergangenen Monaten kam immer mal wieder der Gedanke daran auf, mir professionelle Hilfe zu suchen, denn lange würde ich diese Fassade nicht mehr aufrechterhalten können. Es ist ein innerer Kampf. Und im Grunde verteufle ich den Alkohol ja nicht, ganz im Gegenteil. Durch ihn kann ich dem Alltag und den negativen Gefühlen entfliehen, ohne mich diesen stellen oder gar aushalten zu müssen. Es sind die blöden Nebenwirkungen, welche diese Abhängigkeit mit sich bringt und mich belasten.


Es müssen wohl mindestens zwei Schutzengel für mich abgestellt worden sein, die mich täglich begleiten und bisher dafür gesorgt haben, dass nichts Schlimmes passiert ist. Denn realistisch betrachtet braucht man nicht studiert zu haben um festzustellen, dass ich mich offensichtlich täglich mit Restalkohol im Blut hinters Steuer setze, um zur Arbeit zu fahren. Darauf bin ich wirklich nicht stolz, das darfst du mir glauben. Das sind dann jene Nebenwirkungen, welche die Alkoholabhängigkeit mit sich bringt.


Ich weiß nicht, ob du das kennst, aber für mich ist der Jahreswechsel irgendwie auch immer mit einem Moment des Innehaltens verbunden. Ob man dies nun Nostalgie nennen möchte, das Philosophieren über Neujahrsvorsätze, die dann eine Woche später wieder verworfen sind, oder einfach das alte Jahre Revue passieren lassen und einen Blick auf das kommende Jahr zu werfen, sei einmal dahingestellt. Ich weiß nicht, was es ist und woher die Kraft dafür kommt, aber in dieser Nacht treffe ich eine Entscheidung.

2018 wird nicht das Jahr sein, welches auf meinem Grabstein stehen wird!

Wenn ich die vergangenen Monate betrachte, dann scheint mir dieses Bild vor meinem inneren Auge, stehend vor meinem eigenen Grab, nicht mehr allzu fern zu sein, wenn ich jetzt so weitermache wie bisher. Ich habe keine Ahnung, was ich mit meinem Leben noch anfangen soll und wie ich da überhaupt herauskomme. Aber 2018 wird nicht das Ende sein, so viel steht für mich fest. Ich bin körperlich und seelisch am Ende meiner Kräfte und werde auch nicht in der Lage sein mein Trinkverhalten einfach zu ändern, so realistisch darf ich bei meiner Selbsteinschätzung schon sein. Aber ich fasse den Entschluss, mir professionelle Hilfe zu suchen, denn alleine komme ich da ganz sicher nicht mehr raus. Aber genug für heute, es wird nun endlich Zeit schlafen zu gehen.


Es wäre wohl zu einfach, wenn ich jetzt sagen könnte, dass ich nach dem Aufwachen nun ohne Alkohol in den Tag starten könnte. Nein, das geht leider schon lange nicht mehr. Aber ich kann zumindest damit anfangen, mich im Internet einmal schlau zu machen, wie meine nächsten Schritte nun aussehen werden.


Der erste Weg führt mich zu meinem Hausarzt, den ich in den kommenden Tagen besuche. Ich bin ziemlich nervös, verunsichert und muss all meinen Mut zusammennehmen, als ich aufgerufen werde und in das Sprechzimmer gehe. Ich schildere ihm mein Anliegen und hoffe, dass er mich auf diesem, für mich sehr schwierigen Weg, unterstützen wird. Aber ich werde mit unglaublicher Wucht auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen. Mein Hausarzt ist mit diesem Krankheitsbild offensichtlich komplett überfordert, anders kann ich es mir nicht erklären, da ich seine fachliche Kompetenz grundsätzlich nicht infrage stellen möchte. Kein Gesundheitscheck samt Untersuchung der Organe, keinerlei Informationen über mögliche weitere Schritte oder Anlaufstellen, keinerlei Feingefühl dafür, seinen Patienten in einer emotional schwierigen und instabilen Situation abzuholen, schlichtweg keinerlei Empathie. Er beendet das Gespräch mit dem Verweis, dass irgendwo in der Praxis wohl sicher noch ein Flyer der Anonymen Alkoholiker zu finden sein sollte.


Ich verlasse die Praxis und bin so durcheinander, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, wo ich eigentlich mein Auto geparkt habe. Zu viel Zeit ist vergangen, bis ich eingesehen habe, dass ich mich meiner Alkoholsucht stellen muss und auch verstanden habe, dass ich dafür bereit sein muss, professionelle Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen. Und noch mehr Mut und Kraft hat es mich gekostet, diesen Termin beim Arzt wahrzunehmen. Denn schließlich geht es hier nicht um einen Vorsorgecheck beim Zahnarzt, um einen Stempel in sein Krankenkassenheftchen zu bekommen.


Was mache ich denn jetzt nun? Da ist es wieder, jenes Gefühl, was mir nur all zugut vertraut ist und was sich in gewisser Weise durch mein Leben zieht. Wenn du etwas wirklich willst, dann musst du dich selbst darum kümmern. Lege deine Erwartungen, deine Hoffnung und dein Vertrauen niemals in die Hände andere Menschen, denn am Ende des Tages wirst du enttäuscht, früher oder später. Und zwar mit Recht. Denn du warst es, der die Kontrolle über etwas aus der Hand gegeben hat, anstatt dafür Sorge zu tragen, dass es erledigt wird, indem du dich selbst darum kümmerst.


Den Dialog, den bildlich gesprochen Engelchen zur rechten und Teufelchen zur linken auf der Schulter miteinander austragen, ist in meinem Fall der Dialog zwischen meinem Verstand und meinem Herzen. Der Verstand argumentiert rational, unterstreicht seine Argumente mit Macht und Willensstärke, während das Herz emotional handelt und nach diesem Besuch beim Arzt verletzt, resigniert und trotzig wie ein kleines Kind reagiert.


Während ich zu meinem Auto schlendere, von dem ich immer noch nicht sicher weiß, wo es steht, streiten die beiden immer heftiger miteinander. Hätten sie Waffen, würden sie diese wohl einsetzen, bis nur noch einer der beiden übrigbleibt, so emotional angespannt ist die Situation. Ich gebe meinem Verstand die Macht, über mein Herz verfügen zu dürfen, denn wenn es in der Vergangenheit hart auf hart kam, so hat mich dieser nie im Stich gelassen. Was ich von meinem Herzen ganz sicher nicht sagen kann. Ich habe mir diese Suppe eingebrockt, also liegt es nun auch an mir, diese auszulöffeln, koste es was es wolle. Es ist also scheißegal, wer mir auf diesem Weg, welche Steine in den Weg legt. Ich muss und werde zusehen, dass ich mich da jetzt durchkämpfe. Und wenn eine Tür verschlossen ist, dann fang nicht an rumzuheulen, sondern such gefälligst die nächste Tür, denn irgendwo muss es von diesem dunklen Flur aus weitergehen. Da ist er wieder, dieser brachiale Wille. Und genau diesen brauche ich jetzt, um diesen Weg zu gehen.


Ich finde einen neuen Hausarzt und diesmal merke ich schnell, dass dieser Arzt offensichtlich sehr vertraut ist mit meinem Krankheitsbild. Ich hinterfrage nicht warum dem so ist, sondern bin unglaublich froh darüber, dass ich hier richtig bin. Es wundert wohl niemanden, dass meine Organe nach all den Jahren entsprechende Spuren des Alkoholmissbrauchs aufweisen, aber alles andere hätte mich auch gewundert. Nun habe ich endlich einen Ansatz, den ich weiter verfolgen kann sowie eine formulierte Diagnose. Das erste Puzzleteil liegt an der richtigen Stelle.


Meine nächste Anlaufstelle ist eine örtliche Suchtberatungsstelle. Ich wende mich an die Suchtberatungsstelle der Diakonie Hannover. In den ersten Gesprächen wird gemeinsam erarbeitet, welche Form der Therapie am zielführendsten sein könnte. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch die Hoffnung, dass ich all dies in Form einer ambulanten Therapie bewerkstelligen kann, denn dann könnte ich das vielleicht irgendwie um meinen Job herumbauen und es bleibt beim Status quo, dass niemand in meinem beruflichen Arbeitsumfeld etwas von meinem Alkoholproblem erfährt. Aber du wirst es vermutlich bereits ahnen, dass dies eine Wunschvorstellung bleibt, die fernab jeglicher Realität entstand. Nach wie vor konsumiere ich täglich meine gewohnte Menge an Alkohol, denn einfach einen Tag lang auf Alkohol verzichten zu können, funktioniert nicht. Folglich ist auch schnell klar, dass kein Weg an einer stationären Behandlung vorbeiführt.


Nun wird die ganze Angelegenheit doch ziemlich kniffelig. Über viele Jahre hinweg habe ich es geschafft, dass niemand in meinem beruflichen Umfeld etwas von meinem Leben als Alkoholiker bemerkt hat und nun werde ich das wohl beichten müssen. Denn wie sollte ich das sonst bewerkstelligen, da sich die stationäre Langzeitrehabilitationsmaßnahme bei meinem Krankheitsbild auf dreieinhalb Monate beläuft. Das stellt für mich nun doch ein ziemlich großes Problem dar. Wie soll ich das meiner Geschäftsleitung vermitteln, denn damit öffne ich ja zwangsläufig die Büchse der Pandora. Und ob sich diese, Therapie hin oder her, anschließend jemals wieder schließen lässt, bleibt wohl fraglich.


Würden wir jetzt über eine Tätigkeit sprechen, bei der ich problemlos ersetzbar wäre und auch keine nennenswerte Bindung gegenüber meinem Arbeitgeber hätte, so wäre das mitunter nicht das große Thema. Aber ganz so einfach ist das nicht. Ich bin bereits seit vielen Jahren hier beschäftigt und bin operativ verantwortlich für einen Unternehmensbereich, samt entsprechender Personalverantwortung. In der Folge geht es also nicht nur um das, was zwischen meiner Geschäftsleitung und mir geschieht, sondern auch um die Auswirkungen meiner eigenen Reputation gegenüber den Mitarbeitern. Spätestens jetzt nimmt meine Entscheidung, mich meiner Alkoholsucht zu stellen, eine Form an, die ich überhaupt nicht mag. Nämlich die Tatsache, dass ich etwas aus meiner Hand geben muss und dann folglich nicht mehr selbst kontrollieren kann.


Egal was die Zukunft nun bringen mag, mein Job steht auf dem Spiel. Ebenso wie meine Reputation in der gesamten Branche, in welcher ich mir überregional mittlerweile einen Namen gemacht habe. Der Preis, den ich für diesen Weg bereit sein muss zu bezahlen, hat sich in diesem Moment vervielfacht. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass Herz und Verstand sich nun wieder gegenüberstehen, mit den Waffen im Anschlag und bereit zum Gefecht.


Das Ausmaß meiner Entscheidung, welche ich vor einigen Wochen zum Jahreswechsel getroffen hatte, nimmt nun reale Konsequenzen an. Und wer mich kennt und weiß, wie hoch für mich der Stellenwert meiner beruflichen Tätigkeit ist, wird erahnen können, was für mich hier nun auf dem Spiel steht. Denn letztlich ist meine Arbeit das einzige, was mir bis heute einen Halt und eine Struktur gegeben hat und dem sich sogar mein Alkoholkonsum unterwerfen musste.


Es hilft aber alles nichts, dieses Blatt kann ich so oft wenden, wie ich will. Es gibt keine Alternative, wenn ich einen Weg aus meiner Alkoholsucht finden möchte. Also sollte ich damit beginnen, mich auf dieses Gespräch mit meiner Geschäftsleitung seelisch vorzubereiten.


Es wird einige Wochen dauern, bis der Antrag zur Bewilligung der Rehabilitationsmaßnahme seitens der Deutschen Rentenversicherung bearbeitet sein wird. Bis dahin besuche ich einmal wöchentlich die Gruppentherapie der Suchtberatungsstelle. Die Rehabilitationsmaßnahme wird bewilligt. Es folgen Telefonate und Terminabstimmungen mit zwei Einrichtungen und wenige Tage später ist es so weit. Der Fahrplan steht zeitlich fest und nun gibt es einen verbindlichen Termin für den Start der Therapie. Diese muss allerdings nüchtern angetreten werden. Und da ich bedauerlicherweise nicht mehr in der Lage bin, aus eigener Kraft eine Woche lang keinen Alkohol zu konsumieren, bedeutet dies, dass ich vorher noch eine Entgiftung vornehmen werden muss, um sicherzustellen, dass ich die Therapie auch nüchtern antrete. Andernfalls wäre diese beendet, bevor sie überhaupt begonnen hat. In jedem Fall gibt es nun ein konkretes Datum, den Tag X an dem es losgehen wird. Und solange dieser Termin noch nicht feststand, bestand auch keine Notwendigkeit, das Gespräch mit meiner Geschäftsleitung zu führen. Aber nun muss ich die Karten auf den Tisch legen und ehrlich gesagt wird mir bereits beim Gedanken daran schlecht.


Dieses Gespräch fällt mir ziemlich schwer, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass ich etwas offenbare, von dem ich überzeugt bin, dass niemand in meinem beruflichen Umfeld etwas davon ahnen wird. Mit dieser, zugegebenermaßen sehr subjektiven Einschätzung mag ich völlig daneben liegen, aber bereits die ersten Minuten dieses Gesprächs bestätigen mir, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung in diesem Fall deckungsgleich sind. Meine Geschäftsleitung ist geschockt und fällt aus allen Wolken, da es bisher keinerlei Anzeichen dafür gab, dass ich ein solches Problem habe. Ich weiß nicht, was mir nun lieber wäre. Gäbe es Anzeichen für Unregelmäßigkeiten, dann wäre meine Beichte etwas, was jene Unregelmäßigkeiten erklären würde und dies kann sich dann positiv formuliert befreiend anfühlen, da es nun eine Erklärung für mein Verhalten gibt. Und wohl noch viel wichtiger, ich liefere damit dann ja letztlich auch einen Lösungsansatz, um jene vermeintlichen Defizite abzustellen. Wenn es bisher aber keinerlei Anzeichen für irgendwelche Unregelmäßigkeiten gab, dann muss eine solche Nachricht wohl für die allermeisten von uns schockierend sein. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich in absehbarer Zeit für über drei Monate im Geschäftsbetrieb ausfallen werde.


Es ist eine wirklich sehr unangenehme Situation, in der ich mich hier befinde. Gefühlt schaffe ich ein Problem, wo eben noch keines war, jedenfalls in der Außendarstellung. Und unabhängig davon, wie ich nach meinem Aufenthalt in der Klinik zurückkehre, diesen Stempel werde ich nie wieder loswerden und man wird ganz genau beobachten, wie ich mich zukünftig verhalten werde. Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aber es hilft alles nichts. Es geht um mein Leben und das ist größer als eine Festanstellung und letztlich kann ich meinem Arbeitgeber die Entscheidung darüber nicht abnehmen, ob für ihn der potenzielle Nutzen nach meiner Therapiemaßnahme größer ist, wenn er an mir festhält oder das Risiko, wie ich nach der langen Ausfallzeit zurückkehren werde und ob die Therapie überhaupt erfolgreich verlaufen wird.


Ich bin wirklich erleichtert, als mir meine Geschäftsleitung signalisiert, dass sie an mir festhalten möchten und ich bin mir absolut im Klaren darüber, dass dies nicht selbstverständlich ist. Wir beschließen dieses Thema und meine anstehende Abwesenheit im Interesse aller Beteiligten in diesem Raum zu lassen und mit der notwendigen Diskretion zu behandeln. Rückblickend betrachten bin ich unglaublich dankbar für diesen Vertrauensvorschuss und Rückhalt seitens meiner Geschäftsleitung in dieser für mich sehr schwierigen Situation. Und ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster damit, wenn ich sage, dass ich dieses Vertrauen mit meiner Leistung im Unternehmen in den folgenden Jahren entsprechend zurückgezahlt habe.


Bevor ich die qualifizierte Therapie in der Klinik antreten kann, werde ich mich vorher noch eine Woche lang in die Entgiftung begeben müssen, um sicherzustellen, dass ich zu Beginn der Therapie auch wirklich nüchtern bin. Aufgrund der regionalen Zuständigkeit bedeutet dies für mich den einwöchigen Aufenthalt in der Notaufnahme der Psychiatrie. Ich ahne bereits, dass dies kein Ort sein wird, an dem ich mich gerne aufhalten möchte. Das spielt aber nun keine Rolle, denn es ist nun mal das nächste Puzzleteil auf meinem Weg, was ich in die Hand nehmen muss, um es an die richtige Stelle zu legen.


Und so kommt es, dass ich mich am frühen Morgen des 16.04.2018, mit den nötigsten Sachen auf den Weg in die Psychiatrie begebe. Mich begleitet niemand und selbst wenn es jemand gewollt hätte, so hätte ich es vermutlich abgelehnt.

Es gibt Wege im Leben, die musst du alleine gehen!

Im Zuge der Aufnahme wird natürlich auch der aktuelle Alkoholwert gemessen. Einer meiner beiden Schutzengel greift hier offensichtlich aktiv mit ein. Der Alkoholtester zeigt beim Pusten einen Wert von 0,00 Promille an, was physisch nicht stimmen kann. Denn schließlich stand der Vortag bis tief in die Nacht im Zeichen des Alkohols und es ist noch sehr früh am Morgen. Bis auf Weiteres sollte der Vortag ja nun der letzte Tag sein, an dem ich Alkohol getrunken habe. Offensichtlich ist der Alkoholtester defekt, aber ich verhalte mich ruhig und lasse das so stehen.


Die Konsequenzen dieses Alkoholtests hatte ich überhaupt nicht bedacht, wie denn auch. Wenn dieses Gerät nun ein reales Ergebnis angezeigt hätte, würde ich mich jetzt direkt im Aquarium wiederfinden. So wird umgangssprachlich jener geschlossene Bereich innerhalb der Notaufnahme der Psychiatrie genannt, indem sich die Patienten wiederfinden, welche unter Beobachtung stehen. Durch eine große Fensterscheibe aus Sicherheitsglas können die Patientinnen und Patienten dort jederzeit überwacht werden. Daher auch der Name. Nicht selten geht das mit der Fixierung ans Bett einher, denn schließlich ist in der Notaufnahme selten bekannt, was für Substanzen die Patientin oder der Patient denn überhaupt zu sich genommen hat. Und bei all den verfügbaren Substanzen dürften die wenigsten hier wegen ihres übermäßigen Alkoholkonsums gelandet sind.


Ich darf mich wohl bei meinem Schutzengel dafür bedanken, dass ich mich in den nächsten Tagen zumindest halbwegs normal innerhalb der Station bewegen darf. Direkt nebenan, nur durch eine Tür getrennt, befindet sich das Aquarium und eine Etage über mir liegt die geschlossene Abteilung der Psychiatrie. Wer hier neu ankommt, muss zwangsläufig erstmal durch jenen Bereich, in dem ich mich bewegen und aufhalten darf.


Aus Gründen der Diskretion werde ich den Namen der Einrichtung hier nicht nennen. In den Zuständigkeitsbereich dieser Klinik fällt jedoch auch die Innenstadt von Hannover. Und es ist kein Geheimnis, dass sich Hannover, basierend auf den Fallzahlen pro Einwohner, unmittelbar hinter Frankfurt und Berlin einreiht, was einem der Blick in die Kriminalitätsstatistik verrät. Und nicht selten spielen dabei Betäubungsmittel eine Rolle.


Das ist also nun mein Zuhause für die kommende Woche. Wobei Zuhause in diesem Zusammenhang wohl eher grotesk klingt. Aber sei es drum, wäre ich an irgendeiner Stelle in meinem Leben anders abgebogen, so wäre ich jetzt nicht hier gelandet.


Engelchen und Teufelchen, in meinem Fall Verstand und Herz, stehen wieder auf dem Plan als es um die Einnahme von Medikamenten geht, um die Nebenwirkungen des Alkoholentzugs zu minimieren. Denn ein kalter Entzug ist nach so vielen Jahren des Konsums mit erheblichen Risiken verbunden. Ich brauche nicht lange darüber nachdenken und entscheide mich entgegen der Empfehlung der Ärzte gegen die Einnahme von Medikamenten, speziell Diazepam. Ich bin hier, um von einem Suchtmittel wegzukommen. Dann nehme ich dafür nicht das nächste, um am Ende des Tages auf den Tabletten hängen zu bleiben. Ich entscheide mich also für einen kalten Entzug, welcher nach so vielen Jahres der Abhängigkeit riskant ist. Aber hier bin ich ja unter Aufsicht. Außerdem war ich es, der entschieden hat, täglich zu trinken. Dann muss es jetzt eben auch mein eigener Wille richten, dies zukünftig zu unterlassen. Und zwar, ohne dabei auf irgendwelche Medikamente zurückzugreifen.


Natürlich hat dieser kalte Entzug seine Nebenwirkungen. In meinem Fall kämpfe ich täglich mit über sechs Litern Flüssigkeitsaufnahme und drei Packungen Zigaretten dagegen an. Es hat ja nun auch niemand behauptet, dass so eine Entgiftung nach Jahren des Alkoholmissbrauchs ein Spaziergang sein wird. An Schlaf ist hier wenig zu denken, aber das ist mir hier derzeit auch völlig egal. Ich muss jetzt runter von dem Zeug, um in einer Woche nüchtern meine Rehabilitationsmaßnahme antreten zu können.


Und zur Ruhe komme ich in diesen Tagen ohnehin nicht in einem solchen Umfeld. Mehrfach täglich steht ein Krankenwagen vor der Tür und liefert neue Patientinnen oder Patienten ein, nicht selten begleitet von der Polizei zum Selbstschutz der Helfer. In einem Moment kann hier alles ruhig sein und in der nächsten Sekunde eskaliert jemand, von außen betrachtet völlig aus dem Nichts heraus und dann muss es ganz schnell gehen. Alarm wird ausgelöst und direkt sind mehrere Kräfte aus verschiedenen Bereichen vor Ort um die Situation zu entschärfen. Aber was hatte ich erwartet? Es handelt sich schließlich um die Notaufnahme der Psychiatrie und hierher kommt niemand, der irgendein Wehwehchen hat. Und so passt es dann auch ins Bild, dass ich eines Nachts durch die Rotorblätter eines Hubschraubers geweckt werde, welcher unmittelbar über der Einrichtung schwebt. Wie ich erfahre, ist einem Patienten der geschlossenen Abteilung die Flucht gelungen und dieser wird nun mit Hochdruck gesucht.


Nein, dies ist kein Ort, an dem ich mich auch nur einen Tag länger aufhalten möchte, als nötig. In diesen Tagen brennen sich so manche Bilder in meinem Kopf ein, die rational betrachtet erstmal auf der Festplatte abgelegt werden, ohne in der Lage zu sein, diese begreifen oder verarbeiten zu können. Es sind bisweilen menschliche Abgründe, die ich hier sehen muss, verursacht durch die Zuführung von Betäubungsmitteln der übelsten Sorte und welche ich an dieser Stelle auch nicht weiter ausführen möchte. Diese Eindrücke werden mich sicher noch lange beschäftigen.


Und dennoch gibt es hier drin auch eine andere Seite. Wenn die Patientinnen und Patienten die ersten 72 Stunden überstanden haben und wieder in der Lage sind sich normal zu verhalten, dämmert es ihnen, wo sie sich befinden. Und dann ist es auch möglich, sich normal miteinander unterhalten zu können. Und so erfahre ich viele Lebensgeschichten, die meist eine Gemeinsamkeit haben. Nämlich einen tragischen Schicksalsschlag, der die Menschen aus der Bahn geworfen hat.


Die Zusammensetzung der Menschen hier ist ein Spiegel der Gesellschaft, und ich meine wirklich der gesamten Gesellschaft. Hier kommen wirklich alle demografischen und sozialen Schichten zusammen, jedoch mit einem Unterschied. Denn hier drin sind alle gleich. Hier sitzen Unternehmer, Lehrer und Anwälte an einem Tisch mit Krankenschwestern, Handwerkern und Obdachlosen. Ich finde es spannend, die Geschichten dahinter zu hören, wenngleich es sich wohl bei niemandem um eine Gute-Nacht Geschichte handelt. Nein, das sind Lebensgeschichten und Schicksale, die mich beschäftigen und über die ich viel nachdenke.


Unausgesprochene hierarchische Strukturen innerhalb der Gruppe der Patientinnen und Patienten ergeben sich hier basierend auf der Zeit, wie lange jemand schon hier ist, seinem Auftreten und der Selbstsicherheit, die er oder sie hier vermittelt. Ich freunde mich mit einem jungen Mann an, mit dem ich auch das Zimmer teile. Glaubt man seinen Aussagen, einem Kriminellen, der hier ist, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Wir verstehen uns gut und so dauert es auch nicht lange, bis ich mich hier in das soziale Gefüge und die unausgesprochenen hierarchischen Strukturen eingefunden habe. Denn hier drin spielt es keine Rolle, wer du draußen im Leben warst oder bist. Hier, innerhalb dieser Parallelwelt werden die Uhren auf null gestellt und es zählen deine Worte und deine Taten.


Immer wieder ziehe ich mich in diesen Tagen zurück und möchte alleine sein. An Ende des Flurs stehen zwei Sessel. Hier ist es den Tag über meist etwas ruhiger. Offensichtlich verbringe ich hier mehr Zeit als üblich, denn immer wieder werde ich von den netten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angesprochen, ob denn bei mir alles in Ordnung sei. Ich bin mittlerweile seit vier Tagen hier und ich brauche diese Auszeiten. Ich versuche all die Eindrücke zu verarbeiten, was mir aber nur mäßig gelingt. Denn parallel dazu bin ich immer noch mit den Nebenwirkungen des kalten Entzugs beschäftigt.


Ich komme mit einer Mitarbeiterin ins Gespräch und frage sie, wie sie das hier Tag für Tag aushalte. Sie möchte Menschen helfen und das kann sie ihrer Ansicht nach am besten hier. Die Geschehnisse sind für sie zum Alltag geworden und gehören zu ihrem Job, wie für andere, die täglichen Routineaufgaben. Nur mit dem Unterschied, dass die Vorkommnisse in dieser Einrichtung keineswegs mit irgendeiner Routine im Arbeitsalltag vergleichbar sind. Das sind besondere Menschen, die hier arbeiten und für die ich dankbar bin. Meine Anerkennung gilt jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die hier fernab der öffentlichen Wahrnehmung arbeiten und suchtkranken Menschen helfen.


Am Ende der Woche heißt es für mich Abschied nehmen. Normalerweise geht es von hier aus direkt in die Rehabilitationsklinik. Ich habe dafür aber gar nicht genug Kleidung eingepackt. In Abstimmung mit dem Arzt, beschließen wir, dass ich heute nach Hause fahren werde, um meine Sachen packen zu können, um dann am Folgetag in die eigentliche Rehabilitationsklinik nach Bad Essen zu reisen. Soweit ich das beurteilen kann, fühle ich mich dafür psychisch stabil genug. Ein Restrisiko bleibt, denn mich wird niemand auf diesem Weg begleiten und auch zuhause wartet niemand auf mich. Wie gesagt, es gibt Wege im Leben, die musst du alleine gehen. Nach kurzer Diskussion zwischen Verstand und Herz, folgt mein Herz aber ohne große Widerworte dem Verstand und ich mache mich auf den Heimweg. Und obwohl ich nur eine Woche in dieser Klinik verbracht habe und froh bin diesen Ort verlassen zu dürfen, so sind mir einige Menschen hier ans Herz gewachsen und ich hoffe, dass sie ihren Weg gehen werden.


Mich umgibt eine gewisse Unsicherheit, als ich mich auf den Weg nach Hause begebe, aber ich bin dennoch unglaublich erleichtert, dass ich diesen Ort nun verlassen darf. Für mich ist es ein Teil meines Weges. Aber wenn ich ehrlich bin, dann gibt es Dinge im Leben, die man nicht unbedingt gesehen und erlebt haben muss. Zumindest ist es eine Warnung an mich selbst, die ich mir, wenn die Zeit gekommen ist und es notwendig sein sollte, vor Augen halten werde. Denn, an diesen Ort möchte ich nie wieder in meinem Leben zurückkehren.


Und so kommt es dann, dass ich mich am frühen Morgen des 23.04.2018, mit dem Zug auf die Reise nach Bad Essen begebe. Mein Ziel ist jene Rehabilitationsklinik, die für die nächsten Monate mein Zuhause sein wird. Die Landschaft nehme ich gar nicht mehr wahr, als ich verloren aus dem Zugfenster blicke. Meine Seele ist müde. Mich begleiten Herz und Verstand zur rechten und zur linken meiner Schulter, aber auch die Beiden sind nach den vergangenen Wochen so müde, dass sie gerade keine Kraft mehr zum Streiten miteinander finden.


Ich lasse die vergangenen Wochen Revue passieren. Sechzehn Wochen zuvor, saß ich zum Jahreswechsel auf meinem Balkon und habe den Entschluss gefasst, mein Leben zu ändern. Sechzehn Wochen, die mich bis zum heutigen Tage mental wie körperlich unglaublich viel Kraft gekostet haben. Und die eigentliche Therapie soll nun erst beginnen. Bis hier her war es ein schwieriger Weg und die Zukunft wird sicher nicht leichter werden. Aber trotz dieser Ungewissheit darüber, was mich in dieser Klinik erwarten wird, finde ich eine gewisse innere Ruhe. Seit ich den Entschluss gefasst habe, mich meiner Alkoholsucht zu stellen, ist es mir Stück für Stück gelungen, alle Randstücke des vor mir liegenden Puzzles zusammen zu suchen. Und mit meiner Ankunft in der Klinik in Bad Essen liegt vor mir der Rahmen dieses Puzzles. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Um im Bild zu bleiben darf man wohl davon ausgehen, dass es sich in meinem Falle um ein 100.000-teiliges Puzzle handelt, bei dem alle Puzzleteile weiß sind. Also gibt es über das Motiv oder die Farben keinerlei Anhaltspunkte oder Hilfestellung dafür, welche Teile zusammengehören könnten. Den Rahmen bei einem solchen Puzzle gelegt zu haben, bedeutet also vermeintlich wenig auf dem Weg zur Fertigstellung.


Und dennoch, es ist ein Anfang und diesen habe ich gemacht. Und darauf darf ich doch irgendwie ein wenig stolz sein. Denn, es war meine Entscheidung, die ich getroffen habe und die mir niemand auferlegt hat. Und das ist in meinen Augen auch die Grundvoraussetzung dafür, dass der Ausstieg aus einer Sucht überhaupt gelingen kann. Begibst du dich in die Therapie als Ersatzmaßnahme für den Aufenthalt im Gefängnis oder zur Abmilderung einer Strafe, quasi als erzieherische Maßnahme, dann bist du im besten Fall halbwegs extrinsisch motiviert. Aber, das wird nicht genug sein, um eine solche Therapie nachhaltig erfolgreich bestreiten zu können.


Hier in der Klinik werde ich mich meiner Vergangenheit stellen müssen, und damit beginnen, diese aufzuarbeiten. Ich brauche wieder feste Strukturen, angefangen bei regelmäßigen Mahlzeiten. Nun muss ich aber erst einmal ankommen und mich an die neue Umgebung gewöhnen. In den nächsten Monaten werde ich damit beschäftigt sein, meine Vergangenheit aufzuarbeiten. In diesem geschützten Umfeld soll die Basis dafür geschaffen werden, ein abstinentes Leben führen zu können. In der Praxis bedeutet das, unzählige Gespräche, Disziplin und feste Strukturen, sportliche Aktivitäten und das Zusammenleben von Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen und demografischen Schichten. Ich werde hier viel erleben, Freude und schöne Momente, aber auch Trauer und sehr düstere Zeiten. Denn das bringt eine solche Therapie mit sich. Und am Ende des Tages bin ich es mir selbst gegenüber schuldig, diese Therapie ernst zu nehmen und dies als Start in ein abstinentes Leben zu betrachten. Denn eine solche Chance bekommt man nicht oft im Leben, wenngleich dies ganz sicher nicht leicht werden wird. Aber ich bin fest entschlossen, meine Chance zu nutzen.


Zurück ins Hier und Jetzt. Ich bin zu Besuch in der Klinik in Bad Essen an jenem Samstag im Juni 2023 beim Ehemaligentreffen.


Neben einer Ansprache der Klinikleitung und Erfahrungsberichten ehemaliger Patienten gibt es zwischendurch immer wieder Zeit sich untereinander auszutauschen. Meine Vertraute und ich suchen und finden uns an diesem Tag immer wieder auf dem Gelände. Außer ihr ist an diesem Tag niemand der alten Clique anwesend, mit denen ich damals einen Großteil meiner Zeit in der Klinik verbracht habe. Ich denke, ich spreche für uns beide, wenn ich sage, dass wir uns an diesem Tag unausgesprochen Kraft geben und uns mental stützen, einfach nur durch die Tatsache, den anderen in seiner Nähe zu wissen.


Und es ist gut, dass es ein wirklich sonniger Tag ist, denn selten bin ich auf meine Sonnenbrille wohl so angewiesen, wie an diesem Tag. Weniger aufgrund der Sonne selbst, sondern vielmehr deshalb, weil meine immer mal wieder glasigen Augen dadurch nicht direkt sichtbar sind. Ich hatte erwartet, dass es ein emotional sehr schwieriger Tag werden wird, aber nicht, dass es mich emotional so sehr fordern würde. Aber wie sollte es auch anders sein.


Kennst du dieses Bild, wenn in einem Film eine Rückschau dargestellt wird? Die Kamera verfolgt beispielsweise den Protagonisten auf seinem Weg durch das heute unbewohnte und verlassene Haus. Und dann wird die Szene aus der Vergangenheit eingeblendet, indem in diesem Haus das Leben spielte. Ein Blick ins Kinderzimmer, wo die Tochter auf dem Boden sitz und spielt, dann der Blick in den Flur, wo der Sohn herumtobt. Und anschließend der Schnitt zurück in die Gegenwart, die Kamera folgt dem Protagonisten weiter durch das heute leere Haus. Dieser Bildschnitt von Vergangenheit zu Gegenwart wechselt immer wieder, während der Protagonist durch dieses verlassene Haus spaziert, um dem Zuschauer mit in die Vergangenheit zu nehmen.


An diesem Tag ist es völlig egal, wo ich mich auf dem großen Klinikgelände befinde und ich welche Richtung ich blicke. Um beim Bild der filmischen Darstellung einer Rückschau zu bleiben, so habe ich das Gefühl, über dem aktuell realen Bild, welches ich sehe, liegen parallel etliche weitere Filmsequenzen, die zu sehen sind, alle im selben Bildausschnitt. Und all diese Filmsequenzen zeigen die Ereignisse, welche sich genau hier vor mir vor fünf Jahren abgespielt haben. So sitze ich wie auch die anderen Besucher in der Mehrzweckhalle, während einer Ansprache. Vor meinem inneren Auge laufen aber parallel alle Szenen parallel ab, welche sich hier in dieser Halle zugetragen haben. Die Sporteinheiten, die Turniere und Wettkämpfe, Konflikte und Streit, ebenso wie die vielen Trainingseinheiten, die ich hier absolviert habe. Allen voran aber sehe ich die Gesichter meiner damaligen Mitpatientinnen und -patienten in dieser Halle vor meinem inneren Auge, wohl wissend, dass sie heute gar nicht anwesend sind.


Wenn ich das Gefühl habe, dass es mir emotional gerade zu viel wird, lenke ich meinen Blick in eine andere Richtung, während ich über das Klinikgelände spaziere. Aber das ändert gar nichts, ganz im Gegenteil. Denn durch die neue Perspektive wechseln sich lediglich die vielen Filmsequenzen einmal vollständig aus und werden ersetzt durch jene Sequenzen, welche sich, betrachtet auf die neue Blickrichtung, eben dort abgespielt haben. Es gibt auf dem gesamten Gelände der Klinik schlichtweg keinen Ort und keine Position, an dem sich nicht sofort unendlich viele Szenen parallel vor meinem inneren Auge abspielen. Das ist wirklich anstrengend.


Es wäre schön, wenn ich jetzt sagen könnte, dass diese Szenen positive Ereignisse und Erlebnisse zeigen, denn wir Menschen neigen dazu, das Schlechte im Leben schneller zu vergessen oder zu verdrängen und eher das Positive zu behalten. Aber nein, viele dieser Szenen, welche sich vor meinem inneren Auge abspielen, sind sowohl inhaltlich wie auch emotional schwer zu verarbeiten. Hinzu kommt, dass neben den Bildern auch die Gefühle und Emotionen von damals präsent sind. Es bedarf dafür keinerlei musikalischer Untermalung mehr, um diese noch zu verstärken, denn die Emotionen der Vergangenheit kommen überall hoch und das ist anstrengend. Aber nun gut, diese Konfrontation mit der Vergangenheit ist Teil des Prozesses. Nämlich einen Abschluss mit diesem Kapitel meines Lebens zu finden.


Am Nachmittag gibt es die Möglichkeit, die Therapeutinnen und Therapeuten in einer kleinen Gruppe zu treffen, mit denen man seinerzeit zusammengearbeitet hat. Und ich habe Glück, denn wie ich erfahren habe, ist meine Therapeutin heute ebenfalls in der Klinik. Nein, Glück ist nicht das richtige Wort dafür. Wollte ich dies treffend beschreiben, muss ich von Fügung sprechen. In den Gedanken malt man sich so manches aus, was passieren könnte, wenn man an diesen Ort zurückkehrt, ohne zu wissen, wie es sich dann tatsächlich abspielen wird. Aber eine Szene hatte ich im Vorfeld dieses Besuchs so bewusst vor Augen, dass mir klar war, dass sich diese heute auch in der Realität abspielen wird. Nämlich das Treffen mit jener Therapeutin, mit der ich seinerzeit zusammengearbeitet habe.


Eine Frau, vor der ich einen unglaublich großen Respekt habe und die ich sehr schätze. Und das sage ich, obwohl wir beiden oft genug absolut konträre Meinungen vertreten haben und dies auch immer wieder mit entsprechenden Spannungen zwischen uns, wie auch innerhalb der gesamten Gruppe, einherging. Dennoch hat sie meinen Respekt. Denn sie hat die Gabe, ihr Gegenüber lesen zu können, als Spiegel zu fungieren und durch die vermeintlich einfachsten Fragen den Finger so brutal in die Wunde zu legen, wie wohl nur ganz wenige Menschen sonst. Und du darfst mir glauben, das kann ziemlich schmerzhaft sein, wenngleich notwendig, um sich selbst mit der Vergangenheit und seinem Verhalten auseinander zu setzen.


Vieles aus unseren Gesprächen von damals ist mir nicht mehr bewusst im Kopf. Aber ein Dialog hat sich wohl für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir hatten bereits einige Sitzungen hinter uns und es hat sich gezeigt, dass wir vermutlich auch in Zukunft immer wieder verschiedene Standpunkte vertreten werden würden. Für all jene, die damit keine Berührungspunkte haben sei erwähnt, dass man in einer solchen Langzeittherapie auch die Therapeutin wechseln kann, wenn man das Gefühl hat, dass man nicht zielführend miteinander arbeiten kann. Also fragte ich sie, warum sie mit mir arbeiten wolle, denn offensichtlich war die Zusammenarbeit für uns beide anstrengender, als dies mitunter mit einem anderen Gegenüber hätte sein können. Und an ihre Worte erinnere ich mich bis heute ganz deutlich.

"Weil ich bei Ihnen das Gefühl habe, dass sie es da wirklich rausschaffen können und das als einer von ganz wenigen Menschen".

Aus irgendeinem Grund war sie davon überzeugt. Und zwar, obwohl sie weiß, wie hoch die Rückfallquoten sind und wie frustrierend diese Arbeit sein muss, wenn man Wochen oder Monate später erfährt, was aus den Menschen geworden ist, mit denen man über Monate täglich zusammengearbeitet hat. Diese Worte haben sich in meinem Gedächtnis eingebrannt.


Die Szene, welche sich vor meinem Besuch in Bad Essen vor meinem inneren Auge abgespielt hatte, war das Wiedersehen mit meiner Therapeutin. Ich wollte mich bei ihr bedanken und ihr zeigen, dass ihre Hoffnung begründet und nicht umsonst war. Ich wollte ihr zeigen, dass es möglich ist, diesen Weg erfolgreich zu bestreiten und dass sich ihre Arbeit lohnt. Und sie nun an diesem Nachmittag zu treffen und ihr das persönlich sagen zu können, war unglaublich schön und wichtig für mich.


Aus den Gesprächen an diesem Tag weiß ich, dass es für den einen oder anderen zu einer Art Tradition geworden ist, diesen Ort Jahr für Jahr zu jenem Ehemaligentreffen zu besuchen, mitunter auch als persönliches Mahnmal. Für mich gilt das sicher nicht. Dieser Besuch der Klinik in Bad Essen, fünf Jahre nach meinem Aufenthalt hier, ist für mich eine ganz bewusste Reise zurück in die Vergangenheit. Eine Reise, um mit diesem Kapitel meiner Vergangenheit abschließen zu können.


Als ich mich am Abend wieder auf den Heimweg mache, wird mir deutlich, wie viel Energie mich diese Reise gekostet hat. Zum Glück ist es Samstagabend und den Sonntag habe ich noch frei, bevor es am Montag wieder zur Arbeit geht. Und diesen Tag werde ich brauchen, um die vielen Eindrücke und Emotionen überhaupt halbwegs sortieren zu können. Dieser Besuch in Bad Essen wird sicher nachwirken und mich noch einige Wochen beschäftigen. Und dennoch, so emotional schwierig diese Reise auch war, so notwendig und wichtig war sie für mich persönlich, um meinen Frieden mit meiner Vergangenheit zu machen.


Es vergehen einige Wochen und ich bin zurück im Alltag. Aber irgendwie komme ich nicht wirklich zur Ruhe. Mit diesem Besuch der Klinik in Bad Essen wollte ich dieses Kapitel meines Lebens abschließen, sofern dies überhaupt jemals möglich sein wird.


Durch diese Konfrontation mit meiner Vergangenheit wurden so manche Erlebnisse und Bilder wieder präsent, welche ich über die Jahre offensichtlich gut verdrängt hatte. Und letztlich war der Aufenthalt in dieser Klinik nur ein Puzzleteil von vielen, auf meinem Weg. Wie gehe ich damit nun am besten um? Wie lange werden diese Eindrücke noch präsent sein und möchte ich überhaupt, dass diese immer wieder abrufbar sind? Einerseits ist es wichtig, sich dies zu bewahren, um nicht zu vergessen, was geschehen ist. Andererseits möchte ich vermeiden, dass mich meine Vergangenheit immer wieder einholt. Ein wirklich schmaler Grat, auf dem ich mich da bewege.


Denn machen wir uns nichts vor. Alkoholiker bist du dein Leben lang. Es ist eine Krankheit, die nicht heilbar ist. Du kannst nur versuchen, mit ihr zu leben. Die Frage ist also, ob du dein Leben ohne den Konsum von Alkohol führst, oder eben nicht. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich seit dem 16.04.2018, dem Tag als ich mich selbst zur Entgiftung in die Psychiatrie eingewiesen habe, keinen Alkohol mehr getrunken habe. Und darauf darf ich stolz sein.


Mir kommt die Idee, meine Geschichte aufzuschreiben, um loslassen zu können. Dann brauche ich mir keine Gedanken mehr darüber machen, wie ich den Spagat zwischen bewahren und vergessen, bewerkstelligen soll. Denn, dann gibt es ein Stück Papier, auf dem die Vergangenheit dokumentiert und aufgeschrieben wurde, und ich darf zulassen, dass meine Gedanken daran mit der Zeit verblassen dürfen.


Und so beschließe ich, noch ein letztes Mal, ganz bewusst in die Vergangenheit zu reisen. Nicht nur nach Bad Essen, sondern zurück ins Jahr 2018 zu jenem Tag, an dem ich die Entscheidung getroffen habe, mein Leben zu ändern. Und diese Geschichte werde ich aufschreiben, für mich ganz persönlich, als Mahnmal gegen das Vergessen. Damit wird es mir dann hoffentlich möglich sein, die Vergangenheit ruhen zu lassen, wohl wissend, dass ich darauf, wenn nötig, jederzeit wieder zurückgreifen kann. Und erst beim Schreiben wird mir so manche Begegnung wieder präsent, welche ich bewusst oder unterbewusst über die Jahre verdrängt habe. Ich muss zugeben, diese gedankliche Reise wühlt mich innerlich ganz schön auf und kostet mich über mehrere Wochen hinweg, eine Menge Energie. Jeder Mensch verarbeitet die Geschehnisse auf seine Art und Weise. Und mein Weg der Verarbeitung ist es offensichtlich, meine Geschichte aufzuschreiben.


Während ich die ersten Zeilen schreibe, frage ich mich, ob ich diesen Beitrag auf meinem Blog veröffentlichen soll oder nicht. Und noch bevor ich dies gedanklich abwägen kann, stehen Herz und Verstand zur rechten und linken meiner Schulter auf dem Plan und sind hellwach, bereit zum letzten Gefecht. Und zwischen den Beiden geht es hoch her. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Beiden jemals so konträre Meinungen hatten, die schlichtweg nicht auf einen Nenner zu bringen sind.


Subjektiv betrachtet gibt es überhaupt keine Notwendigkeit, meine Geschichte nun öffentlich zu machen. Und klar ist auch, dass die Folgen dessen nicht kalkulierbar sind, denn damit mache ich mich persönlich angreifbar. Ich kann nicht beeinflussen, wer dies liest und auch nicht, wie mir die Menschen danach begegnen und mit welchen Vorurteilen ich konfrontiert sein werde. Denn bis zum heutigen Tage sind es nur ganz wenige Menschen, die meine Geschichte und damit auch den wahren Grund für meine Abwesenheit im Jahr 2018 überhaupt kennen.


Und auf der anderen Seite steht ein gesellschaftliches Problem, welches stigmatisiert wird. So gesellschaftlich anerkannt der Alkoholmissbrauch heute ist, so wenig Akzeptanz gibt es für diese Krankheit. Aber genau das ist es, eine Krankheit. Was hilft es denn, wenn Mediziner versuchen, dieses Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, während Betroffene durch ihr Schweigen selbst zu jener Stigmatisierung beitragen? Sind es nicht die Menschen selbst, die dieser Krankheit erst ein Gesicht geben? Und ich stelle einmal die wohl provokante These auf, dass jeder von uns jemanden in seinem Umfeld kennt, der von dieser Krankheit betroffen ist. Selbstverständlich ist dieses Thema mit Scham behaftet, denn wer gibt schon gerne zu, dass er von dieser Krankheit betroffen ist.

Ich möchte dieser Krankheit ein Gesicht geben und dafür muss ich sie beim Namen nennen.

Ich werde die Welt mit meiner Geschichte weder retten, noch verändern können. Und dennoch möchte ich meinen Teil dazu beitragen, diese Krankheit beim Namen zu nennen und ihr ein Gesicht zu geben. Denn, es liegt an den betroffenen Menschen wie mir, ob dieses Thema weiterhin totgeschwiegen wird, oder eben auch nicht. Also betrachte ich es als meine Aufgabe, meine Stimme stellvertretend für all jene zu erheben, die ebenfalls mit dieser Krankheit zu kämpfen haben. Denn dies ist deutlich wichtiger, als die möglichen Konsequenzen für mich persönlich. Ich bin stark genug, um mich diesen zu stellen.


Und vielleicht gibt es darüber hinaus den einen oder anderen, die eine oder andere, die meine Geschichte zum Nachdenken anregt und im besten Fall motiviert, sich seiner Sucht ebenfalls zu stellen. Dieser Weg, aus einer Sucht herauszukommen, ist alles andere als ein Spaziergang. Und das ist auch ganz sicher nicht mit einer Langzeitrehabilitationsmaßnahme getan. Nein, das ist nur der Anfang. In den meisten Fällen bedarf es weiterführender therapeutischer Begleitung. Nicht zuletzt, um nachhaltig aufzuarbeiten, was überhaupt erst zu diesem Verhaltensmuster geführt hat. Und ganz persönlich kann ich sagen, dass dieser Weg zeitweise verdammt schwierig ist. Aber es ist möglich und du kannst das schaffen, wenn du damit beginnst, den ersten Schritt zu machen. Denn diesen kann niemand für dich gehen. Es gibt Wege im Leben, die musst du alleine gehen. Aber diese können es wert sein.


In diesem Sinne, danke fürs Lesen und Teilen, damit diese Krankheit nicht länger stigmatisiert wird.


Disclaimer. Dieser Blog spiegelt meine persönlichen Erfahrungen wieder. Kommerzielle Interessen spielen derzeit keine Rolle, da ich diesen Blog privat betreibe. Folglich handelt es bei Marken- und Namensnennung um unbezahlte Werbung, da es keine Kooperationen mit Herstellern oder sonstigen Anbietern gibt. Bewertungen gehen auf meine ganz persönlichen Erfahrungen zurück und entsprechend somit meiner persönlichen Meinung, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit.


 
 
 

4 Comments


Angelika H.
Dec 31, 2024

Benjamin, deine Zeilen haben mich sehr berührt und glaube ganz fest an dich, du schaffst das, da bin ich mir ganz sicher. Liebe Grüße Angelika H.

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Guest
Jan 01, 2024

Sehr stark geschrieben, Benjamin! Chapeau für den Mut, öffentlich über deine Erfahrungen zu sprechen. Und genau das ist so wahnsinnig wichtig, weil es wirklich unzählige Menschen betrifft und aus Scham diese Erkrankung immer noch so totgeschwiegen wird. Dabei ist die Alkoholabhängkeit eine anerkannte Erkrankung. Der Alkohol ist leider als so "normal" in der Gesellschaft angesehen. Deswegen ist oft ein NEIN für diejenigen unglaublich schwer. Ich habe 17 Jahre lang auf einer Station für Alkoholkranke, auf der wir die qualifizierte Entgiftung durchgeführt haben, gearbeitet. Deine Worte lesen sich genauso wie viele Betroffene es wiedergeben. Und ja, leider ist die Rückfallquote sehr hoch. Umso wichtiger ist es, Aufklärung zu betreiben, Hilfen zu geben, das Gefühl zu vermitteln, man ist nicht alleine.

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Benjamin Hof
Benjamin Hof
Jan 01, 2024
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Liebe Anja, ich danke dir vielmals für deine Worte und noch mehr weiß ich ganz persönlich diese anstrengende Arbeit über 17 Jahre lang zu schätzen. Wer in diesem Bereich tätig ist, der leistet einen so unglaublich wichtigen Beitrag, leider meist im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung.

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